Mittwoch, 16. November 2011

Spirale der Gewalt

Man kann dieses Land, so glaube ich erst verstehen, wenn man längere Zeit hier zu Hause war und sie alle durchlebt hat, die guten wie auch schlechten Erfahrungen. Und selbst dann wird man zu dem Schluss kommen, dass man es nie ganz begreifen wird, dass ein Menschenleben gar nicht ausreichend ist, die Strukturen und Gepflogenheiten ganz zu druchblicken. Es fällt mir ja schon schwer den Grund meiner Entscheidung hierher zu kommen in Worte zu fassen. Gerade eben weil es kaum verbalisierbar ist, das, was dieses Land zu etwas so Besonderen macht. Ich führe die Faszination die von allem hier ausgeht immer auf die stetig präsenten Gegensätze zurück denen man sich hier immer gegenübersieht. Mir hat mal jemand gesagt in Europa pendelt das Gefühlsbarometer immer um einen gedachten neutralen Nullpunkt mal mit mehr, mal mit weniger Ausschlägen. Wir sind immer sehr darauf bedacht alles schön im Gleichgewicht zu halten. Hier gleicht die aufgezeichnete Kurve einem permanenten Dauererdbeben auf der Richterskala mit maximal positiven wie negativen Zacken die sich nur höchst seltenst an eine gedachte Mittellinie halten. Und so findet sich das Leben hier von einem Moment der absoluten Freude plötzlich in einem Bereich absoluter Fassungslosigkeit wieder. Diese Erfahrung machten wir erneut am vergangenen Wochenende. Wir genossen einen herrlichen Nachmittag am Pool des 5 Sterne Impala Hotels mit allen Annehmlichkeiten, fanden anschliessend eine Shoppingmall die den unseren mit ihren Geschäften in nichts nachsteht. Natürlich gönnte man sich gierig einen Cappuccino und im anschliessenden Kinofilm eine riesige Tüte Popcorn. Nach einem fast merkwürdig europäisch anmutendem Abendprogramm traten wir die Heimreise zurück zum Collegegelände an. Ich sass am Steuer und ärgerte mich schon zu Anfang an über die entgegenkommenden Fahrzeuge die mit voll aufgeblendeter Festagsbeleuchtung die Sicht fast unmöglich machten. Einige Kilometer ausserhalb der Stadt, gar nicht mehr weit von unserem Campusgelände, musste ich aufgrund zweier quer stehender Fahrzeuge plötzlich die Geschwindigkeit drosseln. Aber ausser ein paar Ästen auf der Fahrbahn konnte ich nichts grosses erkennen, was ihr bzw. unser Weiterfahren behindern sollte. Langsam verringerte ich unseren Abstand und hielt meinen Nebenmann an, doch eben mal nachzufragen, was der Grund für den Verkehrsstillstand war, als eine grosse Menschenmenge aus dem Nichts auftauchte. Im ersten Moment dachte ich, sie hätten vielleicht im angrenzenden Dorf eine grosse Feier gehabt und würden die Festlichkeiten nun ausweiten, als plötzlich die ersten Steine gegen uns flogen. Schnell war klar, das hier feindliche Absichten bestanden. Die ersten kleineren Wurfgeschosse trafen nur den grossen Stahlrahmen meiner Kühlerhaube, aber weitere und größere folgten. Vor mir tauchten aus dem Dunkel wütende Gesichter auf, die Steinbrocken mit beiden Händen haltend, rennend in meine Richtung trugen. Die Autos vor mir hatten bereits begonnen ein hektisches Wendemanöver einzuleiten. Das Geräusch klirrenden Glases im Hinteren des Autos riss mich aus meiner anfänglichen Schockstarre und machte mir die Gefährlichkeit der Situation nur allzu deutlich. Es gab nur einen Ausweg. Um meine Frontscheibe und uns zu schützen brachte ich das Auto erst seitlich gegen einen Frontal-Angreifer um dann im Steinhagel und gefolgt vom Geräusch der dafür geopferten Seitenscheiben des Autos, in drei Zügen zu wenden und anschliessend im 2. Gang davonzubrausen. Somit sind wir wohl unserer eigenen Steinigung nur knapp entkommen. Glücklicherweise wurde niemand von uns verletzt. Ein uns folgender Jeep gab uns über eine- Schleich und Alternativroute durch Wälder, Privatgrundstücke ect. dann Geleit bis zum Campusgate, so dass wir die Nacht sicher und in unseren eigenen Betten verbringen konnten. Was da passiert war, erfuhren wir erst in seiner ganzen Ausführlichkeit am nächsten Tag. Wir waren in eine Art eskalierte Form von Bürgerwehr und Selbstjustiz geraten. Wenige Stunden zuvor war an eben dieser Stelle ein junges Mädchen von einem Bus überfahren worden. Das besonders Tragische war, dass Ersthelfer und Unfallopfer beim Rettungsversuch ein zweites Mal überrollt worden sind, mit tödlichem Ausgang. Die Anwohner hatten wohl schon aufgrund gehäuft ähnlicher Ereignisse dort, Massnahmen von der Polizei gefordert, aber nichts war passiert und so hat das Dorf im Zusammenhang mit diesem tragischen Ereignis Selbstjustiz üben wollen. Das man hier Gewalt mit Gewalt vergilt, sahen wir dann auch am Folgetag auf der Polizeistation. Ein Mitläufer des Vorabends wurde dort in deutlich geläutertem Zustand und offensichtlichen Zeichen äusserlicher Gewalt (milde ausgedrückt) in eine Zelle gestossen. Um den Schluss auf die Gegensätzlichkeit innerhalb des Erlebten zu ziehen, das Dorf bekam die Geschwindigkeitsbegrenzung in Form von "Speed-Bumps", Geschwindigkeitsbollern auf der Strasse und ich sofort Hilfe von allen Seiten angeboten. Die Fenster sind wieder heil um die Beulen kuemmere ich mich später. Um eine Erfahrung sind wir alle reicher. Aber um diese Spirale der Gewalt zu durchbrechen, der sich hier als Problemlösung so bequem bedient wird, bedarf es mehr als nur Fensterrahmenkitt und Strassenteer.

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